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Wenn das Wasserlassen zum Problem wird

Meist funktionieren die Harnwege über viele Jahrzehnte ohne auf- und auszufallen. Passiert das, leidet die Lebensqualität sehr darunter. Foto: Shutterstock
Dr. Christian Gozzi über Blasenentleerungsstörungen, Ursachen bei Mann und Frau, Diagnose, Behandlung und Vorbeugung – Alternative OP-Methode beim Mann
Der regelmäßige Gang zur Toilette ist für die meisten Menschen eine gewohnte und alltägliche Erfahrung. Was viele nicht wissen: Das Wasserlassen ist ein kompliziertes Mess- und Regelsystem unter Beteiligung zahlreicher Nerven, Muskeln und Organen. Der Urologe Dr. Christian Gozzi ist Facharzt in der CityClinic in Bozen und berät, behandelt und operiert dort Menschen mit verschiedensten Problemen rund um Blase und Prostata.

Wie entsteht Urin?

Die beiden Nieren filtern in etwa 300-mal am Tag das gesamte Blut des Körpers und befreien uns so von Gift- und Stoffwechselprodukten. Die Nieren vermischen die Giftstoffe mit Wasser. So bildet sich Urin.

Wie funktioniert – einfach erklärt – die Harnentleerung?

Die Harnblase ist – übrigens so wie das Herz – ein sphärischer Muskel, ausgerichtet auf den Transport von Flüssigkeiten. Der Blasenmuskel kontrahiert sich – nicht wie das Herz jede Sekunde –, sondern je nach Trinkmenge alle 2 bis 6 Stunden. Der Harntransport vom Speicherort Blase über die Harnröhre nach außen geschieht durch ein fein abgestimmtes Zusammenwirken von Muskeln- Nerven und elektronischen Leitsystemen.

Was sind Blasen-Entleerungsstörungen?

Die Blase ist ein Hohlmuskel und soll ruhen, bis die Blase voll ist. Durch einen leichten Druck auf die Blase wird eine kontrollierte Entleerung eingeleitet. Bei ungestörterem Ablauf entleert sich der Harn rasch im kräftigen Strahl ohne Unterbrechung. Der äußere und der innere Schließmuskel der Blase hängen dabei als Funktionseinheit zusammen. Treten Störungen beim Wasserlassen auf, die auf einer funktionellen, anatomischen, strukturellen oder einer Kombination dieser Störungen beruhen, spricht man von einer Blasenentleerungsstörung.

Wer ist davon betroffen?

Blasenentleerungsstörungen kommen in jedem Lebensalter vor. Diese nehmen jedoch im Laufe des Lebens stetig zu. Am häufigsten betroffen sind Menschen im höheren Alter, da sich die strukturellen und funktionellen Veränderungen im Körper summieren und gleichzeitig die Kompensationskapazitäten nicht mehr so gut funktionieren.

Was sind die Ursachen?

Zu Störungen der sogenannten Miktionsabläufe kann es durch neurologische Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems kommen. Eine altersbedingte oder erworbene Schwäche der Blasenmuskulatur sind ebenso häufig Ursache für eine Blasenentleerungsstörung, wie spastische Schließmuskelproblematiken oder anatomische Hindernisse, wie eine Harnröhrenverengung.

Gibt es geschlechterbedingt Nachteile?

Die beschriebenen Prozesse betreffen an sich beide Geschlechter. Alterungsprozesse des Beckenbodens, die bei Mann und Frau auftreten, äußern sich durch genderspezifische Variablen unterschiedlich.

Was bedeutet das bei der Frau?

Bei der Frau wird die zunehmende Alterung des Beckenbodens durch hormonelle Vorgänge beschleunigt. Aber auch mechanische Vorgänge besonders durch Schwangerschaft und Geburt beschleunigen und verstärken die Neigung zu Blasenschließmuskelschwäche.

Was wirkt sich beim Mann negativ aus?

Wenn beim Mann die Prostata wächst, kann sie auf die Blase, die Harnröhre und die Blasenmuskulatur drücken. Dann kann Harndrang spürbar sein, wenn die Blase längst nicht gefüllt ist. Der ständige Druck kann auch die Blasenmuskeln schwächen und dazu führen, dass sich die Blase nicht mehr vollständig entleert. Zunehmender Restharn kann zu häufigem Drang und Störung der Nachtruhe führen. Eine weitere häufige Ursache der Entleerungsstörung ist die beim Mann deutlich häufiger auftretende Harnröhrenenge.

Wie kommt es zu Harnröhrenverengungen?

Die klassischen Ursachen sind Infektionen und Verletzungen, auch durch die Einwirkung von Kathetern im Rahmen von langandauernden, nichturologischen Operationen, auftretenden Durchblutungsstörungen bei Operationen, die gepaart mit dem Katheter-Dekubitus zu Narben und Engen in der Harnröhre führen können. Immer häufiger treten auch traumatisch hervorgerufene Harnröhrenverengungen auf. Beim Einführen und Manövrieren mit verschiedenen Resektoskopen und Lasersonden, die in der Prostata- und Blasenchirurgie oder bei Steinextraktionen verwendet werden, ist besonders darauf zu achten, dass Instrumentendurchmesser und Harnröhrenvolumen aufeinander abgestimmt sind und die Harnröhre nicht verletzt wird.

Wie wirken sich Blasenentleerungsstörungen aus?

Die Symptome hängen von mehreren Faktoren, wie der Dauer der Störung, von der feinstrukturellen Beschaffenheit der Blase sowie von den sensomotorischen Qualitäten der Betroffenen ab. Es gibt Beschwerden, wie plötzlich auftretender Harndrang oder häufiger Drang mit gestörter Nachtruhe (Nykturie) bis hin zu drangbedingtem Harnverlust. Strahlabschwächung und zunehmende Restharnbildung können bei relativ schwachen dünnwandigen Blasen zu enormen Blasendimensionen führen mit relativ unscheinbaren subjektiven Beschwerden, bis es irgendwann zu chronischem Nierenstau und Überlaufinkontinenz kommt.

Welche Ursachen gibt es?

Wie viele Krankheiten wird auch die Blasenentleerungsschwäche durch ungesunden Lebensstil begünstigt. Oft ist die Ursache in der Kindheit verankert und beginnt mit dem Wettbewerb unter Müttern darüber, wann das Kind trocken wird. Dabei werden bereits Kleinkinder konditioniert, ihren natürlichen häufigen Harndrang zu unterdrücken und nur auf Geheiß und konditionierender Belohnung auf’s Töpfchen zu gehen. Dies zieht sich über die Pausenmiktion in Schule und Beruf sowie auf Reisen und in der Freizeit durch bis ins Alter, wo oft noch zum Beispiel Bewegungseinschränkung dazukommen. Häufigste Ursachen sind Diabetes mellitus, chronischer Alkoholismus, Schädigung der Nerven des Rückenmarkes, MS, Bandscheibenvorfall, eine gutartige Vergrößerung der Vorsteherdrüse (Prostataadenom) und eine Harnröhrenenge.

Wie erfolgt die Diagnose?

Dazu gehören eine genaue Erhebung der Krankengeschichte, ein Ganzkörperstatus, Ultraschalldiagnostik und eine Urinuntersuchung. Als spezielles Diagnoseverfahren schließt sich die Blasendruckmessung (Urodynamik) an, bei der die funktionellen Abläufe im Harntrakt untersucht und gemessen werden. Damit lassen sich Harnspeicherungs- und der Harnentleerungsfunktion beurteilen. Zur Abklärung wird meist auch eine Blasenspiegelung nötig. Sie zeigt, ob Hindernisse in der Harnröhre oder Prostata bestehen.

Welche Therapien gibt es?

Die Therapieform hängt von der zugrundeliegenden Erkrankung ab. Bei einer Prostatavergrößerung oder einer Harnröhrenenge wird in der Regel eine Operation empfohlen. Sind die Störungen eine Folge jahrelanger chronischer Überdehnung der Blasenmuskulatur durch Abflusshindernisse oder hohe Restharnmengen wird zunächst versucht, die Blase zu entlasten, damit sie ihre Kontraktionskraft wiedererlangt. Dazu wird vorübergehend eine Dauerableitung mit einem Katheter gelegt. Falls keine Erholung möglich ist, muss die Blase künftig per Einmalkatheterismus entleert werden. Dieses Verfahren ist nach guter Anleitung gut zu lernen. Mit den heute zur Verfügung stehenden, hervorragenden Kathetern lässt sich die Handhabung gut in den Alltag integrieren. Manchmal hilft auch Elektrostimulation der Blase, um das verloren gegangene Blasenfüllungsgefühl wieder entstehen zu lassen. So wird spontanes Wasserlassen wieder möglich. Auch durch Implantation eines „Blasenschrittmachers“ kann in manchen Fällen der Blasenmuskel aktiviert werden, so dass das Wasserlassen wieder möglich wird.

Gibt es auch Medikamente?

Zum Heilen der Störungen kann auf Medikamente zurückgegriffen werden, die Blase, Prostata und Schließmuskel beeinflussen können. Leider haben diese oft unterschätzte Nebenwirkungen, wie Libidoverlust, Depression, Verstärkung des Androgen-Defizites bei älteren Männern mit all seinen negativen Folgen. Verschiebungen im Salzhaushalt des Körpers und Bewegung bzw. Koordinationsstörungen durch Überwindung der Blut-Hirnschranke gehören auch dazu. Oft ist eine frühzeitige operative Lösung insgesamt der deutlich schonendere Weg.

Wann wird eine OP nötig?

Sie ist dann erforderlich, wenn der obere Harntrakt staut und die Gefahr besteht, dass die Nierenfunktion beeinträchtigt wird. Auch die Lebensqualität des Patienten spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, ab operiert werden soll. Werden die Symptome zu lästig und Tagesablauf sowie Nachtruhe der Betroffenen stark beeinträchtigt, sollte gehandelt werden.

Welche sind die chirurgischen Herausforderungen?

Das beginnt bei der korrekten Indikationsstellung. Auch eine technisch hervorragend durchgeführte Prostataoperation kann zu einem schlechten Ergebnis führen, wenn das eigentliche Problem auf einer verkannten Ursache beruht. So kann eine überaktive Blase oft durch eine Störung der Hirnleistung auftreten, wie bei Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Diabetes mellitus oder nach einem Schlaganfall. Da würde eine StandardOP der Prostata zur Katastrophe führen, nämlich von einem häufigen Harndrang ohne Windel zur manifestierten Inkontinenz.

Was sind bewährte Operationsmethoden?

Sind Harnröhrenengen die Ursache, kann eine Harnröhre durch Autotransplantation von Vorhaut oder Mundschleimhaut erweitert werden. Der Löwenanteil der Blasenentleerungsstörungen ist beim Mann durch eine zu schnell und zu stark wachsende Prostata bedingt. Eine persönliche Identifikation des Chirurgen mit dem operativen Schicksal des Patienten und umfassende Gespräche helfen am besten, die richtige OP-Option zu wählen. Die Palette reicht von minimalinvasiven bis zu roboterunterstützten Mehrhöhleneingriffen.

Kann eine Blasenentleerungsstörung zu 100 Prozent chirurgisch gelöst werden?

Je höher Erfahrung, Expertise und Berufsethos, je genauer Anamnese, Abklärung und Diagnostik, umso mehr können indizierte Fälle erfolgreich chirurgisch behoben werden. Das reicht z.B. bei der gutartigen Prostatavergrößerung von minimalinvasiven, in Lokalanästhesie durchführbaren Methoden bis zur teilweisen oder gesamten Entfernung des Adenomes, je nach Alter, persönlichen Wünschen und Anforderungen sowie anästhesiologischen Risiken. Allen Methoden steht die leicht verletzliche Harnröhre mit ihrem begrenzten Durchmesser im Wege.

Sie haben eine alternative chirurgische Methode etabliert?

Als Harnröhrenchirurg habe ich einen alternativen endoskopischen Zugang für die Elektroresektion der Prostata durch die Blase etabliert. Durch den Wegfall der engen Harnröhre als Zugang kann die Resektionsschlinge der Prostatagröße angepasst werden. Der Blick von der Blase aus Richtung Ausgang ist eine bessere Methode und bietet eine sehr gute Alternative zur totalen Entfernung des Adenoms. Falls gewünscht kann die Funktion der Ejakulation erhalten bleiben und bietet eine bessere und sichere Möglichkeit der Blutstillung.

Kann man vorbeugen?

Die beste Prävention ist ein gesunder Lebensstil, beginnend im Kindesalter. Der natürlichen inneren Stimme folgen und Harndrang und Stuhldrang nicht unterdrücken, natürliche Anspannung und Erholungsbedarf pflegen. Training der Beckenbodenmuskulatur durch Beckenbodengymnastik, auch Pilates oder Yoga helfen, die Muskulatur, primär von Beckenboden, Bauch und Rücken, zu stärken.
Dr. Christian Gozzi
Dr. Christian Gozzi aus Bozen hat in Wien und Innsbruck Medizin studiert und die Facharztausbildung für Urologie am Evangelischen Krankenhaus in Oberhausen absolviert. Er arbeitete als Oberarzt im Krankenhaus Brixen, in Ried im Innkreis, an der Kinderurologie BHS Linz, am AKH Wien, an der Uniklinik Innsbruck und am LMU Klinikum München-Großhadern, ehe er 2010 (bis 2013) Primar der Urologie in Brixen wurde. 2010-2020 Vertragsprofessor an der Uni Pisa, seit 2018 niedergelassener Urologe an der CityClinic in Bozen.